Das Leben nach dem Ende der Lieblingsserie
- sarahdennler
- 27. Okt. 2020
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 28. Okt. 2020
Welche Serie soll ich als nächstes anschauen? Ich scrolle mich durch das Angebot von Netflix und stosse auf die Serie «Dexter». Dexter ist ein Serienmörder, der es auf nicht verurteilte Kriminelle abgesehen hat. Genau mein Ding, denke ich, und klicke auf den Playbutton. Die Geschichte um den Serienkiller zieht mich bereits nach der ersten Folge in seinen Bann. Kaum habe ich mit der Serie begonnen, bin ich schon bei der dritten Staffel und verfolge Dexter’s Doppelleben gespannt mit. Jeden Abend freue ich mich auf die Fortsetzung. Nach ein paar Wochen ist es soweit: Staffel 8, Folge 12. Die allerletzte Folge steht mir bevor. Das Letzte, was ich in Dexters Leben miterleben kann, verpackt in 55 Minuten voller Spannung und einem schockierenden Plot Twist. Ich bin wie paralysiert. Schon schlimm genug, dass die Serie endgültig vorbei ist, aber das unerwartete Ende macht es noch unerträglicher. Ich klappe meinen Laptop zu und fange an zu weinen, weil es sich anfühlt, als hätte ich einen Freund verloren. Es gibt keine weiteren Geschichten über Dexter und seine blutige Berufung, nichts was ich noch nicht kenne. Ich weine weiter, weil ich mich über mich selbst aufrege. Kann nicht aufhören, weil mich etwas derart Unwichtiges aufwühlt. Ich weiss nicht, was mit mir los ist.
Was ist eigentlich parasozial?
Noch am gleichen Tag erzähle ich einer Freundin davon. Sie weiss genau, was mit mir los ist, „Das was mit dir passiert, nennen Psychologen Parasocial Breakup Distress.“ Julie studiert Medienwissenschaften und hat sich mit dem Thema bereits auseinandergesetzt. Sie erklärt mir die Symptome: Traurigkeit, Gefühl der Leere, das Bedürfnis, die Serie noch einmal anzuschauen und die Unfähigkeit eine neue Serie anzufangen. Das kommt mir doch bekannt vor. Als ich abends im Zug nach Hause sitze, fange ich an über das Syndrom zu recherchieren.
Zuschauer*innen von Fernsehserien, Talkshows oder Filmen sind keineswegs nur passive Beobachter*innen. Sie interagieren mit den Figuren und Moderator*innen wie bei einer realen Wechselbeziehung. Der grosse Unterschied ist, dass die Handlung über den Bildschirm nur einseitig stattfindet und deshalb parasoziale Interaktion genannt wird. Aus den vermehrten simulierten Handlungen, kann eine parasoziale Beziehung entstehen (1). Parasoziale Interaktionen und parasoziale Beziehungen sind keine kurzlebigen Trends in Zeiten von Netflix und Co. Das Konzept basiert auf einem Aufsatz der amerikanischen Soziologen Daniel Horton und Richard Wohl. Die beiden haben die Kommunikation zwischen Zuschauer*innen und Fernsehakteur*innen bereits 1956 untersucht und das Phänomen der Parasozialen Beziehung im Zusammenhang mit Medien erklärt (2).
Was ist Parasocial Breakup Distress genau?
Doch was bedeutet es, wenn diese Beziehung abbricht und keine Interaktionen mehr möglich sind? Was ist Parasocial Breakup Distress genau? Parasocial Breakup Distress kann nur entstehen, wenn vorher eine parasoziale Beziehung eingegangen wurde. Wie bei Dexter und mir. Zurzeit gibt es keinen offiziellen deutschen, medizinischen Namen. Übersetzt bedeutet Parasocial Breakup Distress emotionaler Stress, welcher durch den Abbruch parasozialer Beziehungen und parasozialer Interaktionen verursacht wird. Obwohl diese Verbindung auf einseitigen Interaktionen basiert, entwickeln sich Gefühle, ähnlich denen, die auch gegenüber realen Personen empfunden werden (3). Wir wollen die Figuren treffen und haben das Gefühl, eine*n gute*n Freund*in gefunden zu haben. Wenn wir in der Realität eine geliebte Person verlieren, leiden wir. Das Gleiche passiert auch bei einem parasozialen Beziehungsabbruch.
Wie komme ich über den Verlust hinweg?
Die Serie beschäftigt mich auch am darauffolgenden Tag. Ich möchte das beklemmende Gefühl unbedingt loswerden, weiss aber nicht wie. Ich setze mich an meinen Laptop und gebe „how to get over the end of a series” in meine Suchmaschine ein. Es erscheinen fast zwei Millionen Suchergebnisse. Etliche Selbsthilfeseiten, Blogbeiträge und Foren stehen mir in meiner Trauerphase zur Seite und versprechen mir, mit gewissen Methoden den Verlust bald überwunden zu haben.
Neben den immer gleichen Tipps und Tricks zur Trauerbewältigung stosse ich auf skurrile und fragwürdige Methoden. Ich soll den*die Drehbuchautor*in kidnappen und ihn*sie zwingen, eine Fortsetzung zu schreiben (4), eine Fake-Beerdigung zu Ehren der Serie halten (5) oder alle Schauspieler*innen zu einem Treffen überreden und sie dazu bringen eine selbst geschriebene Episode von mir zu drehen (6). Das ist mir dann doch ein bisschen zu abgefahren und ich entscheide mich für die klassischen Methoden.
Transformation, Transition, Connection
In einer Studie von Cristel Antonia Russell und Hope Jensen Schau aus dem Jahr 2013, werden die häufigsten Massnahmen in drei Bewältigungsprozesse zusammenfasst. «Transformation», «Transition» und «Connection» (7).
«Transformation» beschreibt den Versuch, die Serie am Leben zu erhalten, indem sich die Zuschauer*innen zusätzliches Filmmaterial anschauen und sich mit den Akteur*innen beschäftigen, wodurch die Serie künstlich verlängert wird (7).
«Transition» ist die zweite Massnahme, bei welcher die Zuschauer*innen den Kontakt zu anderen Fans suchen und sich mit ihnen über die Serie austauschen. Das müssen nicht nur Menschen aus dem Freundeskreis sein. Es gibt etliche Foren und Online-Plattformen, wo sich die Fans gegenseitig das Herz ausschütten können (7).
Der dritte Bewältigungsprozess nennt sich «Connection». Hierbei versuchen die Zuschauer*innen die Serie in einem grösseren gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Beliebte Serien verbreiten sich schnell und deren Inhalte sind bekannt, so dass viele Referenzen daraus überall verstanden werden und eine Verbindung hergestellt werden kann (7).
Meine Trennung von Dexter
Im Nachhinein wird mir bewusst, dass ich diese Phasen exakt so durchlebt habe. Mich intensiv mit der Serie auseinandersetzen, Making-Of’s, Outtakes, Bloopers, Behind the Scenes und Funniest Moments auf Youtube anschauen, tut gut. Die echten Charakterzüge der Menschen hinter den inszenierten Figuren blitzen durch die verpatzten Szenen und Interviews auf und bringen mich zum Lächeln. Ich lese die Wikipedia-Einträge der Serie und der Schauspieler.*innen Mir wird klar, dass hinter Dexter ein ganz normaler Mann und Schauspieler steckt und das hilft enorm. Abends vor dem Einschlafen höre ich mir auf Spotify den Soundtrack zur Serie an. Vor allem der Titelsong bringt mich emotional wieder Mitten in die Serie zurück. Als ich herausfinde, dass meine Arbeitskollegin Dexter auch kennt, sprudelt es nur so aus mir heraus. Alles, was ich in den letzten Tagen gefühlt, gegoogelt und gesehen habe, kann ich endlich mit jemandem teilen, der mich versteht. Ich erzähle ihr von meinen liebsten Szenen und sie mir von ihren. Wir beide haben bei der letzten Folge geweint und können ein Ende kaum akzeptieren. Es ist das Beste überhaupt, jemanden gefunden zu haben, der genau gleich empfindet wie ich.
Obwohl es sich bei Dexter um einen kaltblütigen Serienmörder handelt, wirkt er durch seine Unfähigkeit soziale Beziehungen aufzubauen beinahe kindlich. Wie kommt das? Der Schauspieler von Dexter selbst, Michael C. Hall, hat über den Sinn und Zweck der Serie nachgedacht. Er sagt: „Ich finde es eine interessante Idee, dass wir Ereignisse in einem präverbalen, vorbewussten Stadium absorbieren, mit denen wir nie rational umgehen können (8).“ Im Buch «The Psychology of Dexter» wird die Figur sogar analysiert, und untersucht wieso die Serie für uns Fans so reizvoll ist (9).
Vorbereitet in die nächste Beziehung
Parasoziale Trennungen sind intensive Erlebnisse. Nichtsdestotrotz dauert die Trauerphase weniger lang als bei realen Beziehungen. Ein mediales Schlussmachen im Schnelldurchlauf. Während meiner Trauerbewältigung habe ich gelernt, mich nicht für meine Gefühle zu schämen. Es gibt so viele Menschen da draussen, die das gleiche durchmachen. Das Verhalten der Zuschauer*innen bei einem parasozialen Beziehungsabbruch wird seit Jahren in Studien untersucht und erklärt. Ich kenne nun die Ursache des Syndroms, weiss was die Symptome bedeuten und bin in der Lage, diese mit bestimmten Methoden zu lindern. Die Trennung mit Dexter habe ich inzwischen überwunden, ihn begraben und obgleich ich mir schwöre erstmal parasozialer Single zu bleiben, werde ich mich wohl bald in die Fänge einer neuen Serie begeben.
Sarah Dennler // Dezember 2017
Quellen:
(1) http://www.carta.info/58825/parasoziale-interaktion-in-sozialen-medien-kennst-du-mich/, 16.12.2017
(1) https://www.grin.com/document/7783, 16.12.2017
(2) http://visual-memory.co.uk/daniel/Documents/short/horton_and_wohl_1956.html, 01.12.2017
(3) Effinger, Andrea: Fernsehen und parasoziale Beziehungen: Neuere Untersuchungen zum Verhältnis von Zuschauern zu TV-Personen, 2002
(4) http://www.boredtodeathbookclub.com/2014/05/29/the-end-of-an-era-how-to-deal-with-the-end-of-a-book-series/, 11.12.2017
(5) https://www.dramafever.com/news/5-ways-to-get-over-your-favorite-show-ending/, 11.12.2017
(6) http://community.sparknotes.com/2014/04/04/11-ways-to-deal-when-your-favorite-tv-show-is-ending-forever, 11.12.2017
(7) Russell, Antonia Cristel; Schau, Jensen Hope: When Narrative Brands End: The Impact of Narrative Closure and Consumption Sociality on Loss Accommodation, Journal of Consumer Research, 2014
(7) Braunger, Elsa: Sitcoms im Internet Zuseherreaktionen und Online-Diskurs in den sozialen Medien des Web 2.0 am Beispiel der twentysomething Sitcoms Friends und How I Met Your Mother, 2015
(8) http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/fernsehen/dexter-der-soziopath-er-handelt-nach-seinem-eigenen-kodex-1640324.html, 17.12.2017
(9) https://www.orellfuessli.ch/shop/home/rubrikartikel/ID21103195.html?ProvID=10917751, 17.12.2017
Foto: Wix
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